Ökonomische Nachtwächter

Nachdruck eines Artikels aus den Deutschen Schachblättern 1979 von Herbert Grasemann veröffentlicht unter seinem Anagramm-Pseudonym Arne Mangs.

Arne Mangs macht sich Gedanken über Ökonomische Nachtwächter

Wenn Sie "Du Nachtwächter" zu jemandem sagen, heißt das soviel wie "Mensch, Du schläfst ja mit offenen Augen!" Ein Kompliment ist das nicht, eher das Gegenteil. Das Gegenteil einer lobenden Anerkennung ist es auch, wenn man einem Schachproblem nachsagt, es leiste sich einen "Nachtwächter". Was man darunter versteht? Herbert Ahues weiß es (Weiße Linienkombinationen mit thematischen Verführungen, Seite 76). Keine weiße Figur darf Nachtwächter spielen, also in der Lösung überflüssig sein!"
Bravo! Das nenne ich eine klare, einfache Auskunft, ohne Wenn und Aber, bequem zu handhaben. Lästiges Nachdenken entfällt.
Denken wir also nach. Zunächst: Mit "Lösung" ist die reelle Lösung gemeint, also nicht virtuelles Geschehen, Satzspiele etwa oder thematische Verführungen. Dann: Nachtwächter zu werden, sind nur die weiße Dame, der weiße Turm, Läufer und Springer prädestiniert; dem König, den Bauern sowie sämtlichem Schwarzholz spricht man die Eignung zu diesem Beruf ab. So auch Ahues, Aber jetzt: Dass kein weißer Offizier zum Nachtwächter degradiert werden darf, wer bestimmt das eigentlich? Die FIDE? Die hat vollauf damit zu tun, am Fließband Meister zu produzieren. Der Deutsche Schachbund ist nicht legitimiert, der große Herbert (Ahues) nicht und der kleine Herbert (Grasemann) schon gar nicht. Wer aber ist es dann, der uns ermächtigt, über einen Nachtwächter die Nase zu rümpfen?
Ich verrats Ihnen: Die unsterblichen Schachgötter sind es, die allerhöchste Instanz also. Sie hat den armen Problembauer dazu verdammt, im Schweiße seines Angesichts mit den kostbaren Steinchen zu geizen, hochtrabend ausgedrückt: sich dem unverrückbaren Gesetz von der Ökonomie der künstlerischen Ausdrucksmittel zu unterwerfen. Nach diesem Gesetz darf er manches nicht oder sollte es wenigstens nach Kräften zu vermeiden trachten. Hierzu gehört auch ein fauler weißer Offizier, der die ihm verliehenen Fähigkeiten nur mangelhaft zum Wohle des Ganzen einsetzt.
"Aha, verstehe. Die Frage, ob Nachtwächter oder nicht, ist sozusagen eingebettet in ein übergeordnetes Prinzip, das der materiellen Ökonomie. Richtig?" Richtig. Was folgt daraus?
Erstens: Der Nachtwächter-Begriff - wie immer man ihn formuliert - wurzelt in künstlerisch-ästhetischem Boden, er lässt sich nicht ex cathedra verkünden.
Zweitens: Definiert man ihn losgelöst von seinem Mutterboden, treibt er merkwürdige Blüten. Vergleichen Sie:

2313
Nenand Petrovic
Sportowiec 1959
Spezialpreis








#2

 


Der weiße Sg1 in Nr.2313 wirkt nur als tote Masse, er ist einzig dazu da, ein unerwünschtes Matt auf der 1. Reihe zu vereiteln. Seine Anwesenheit ist technisch begründet, er gehört zum Typus des "technischen Nachtwächters". Den Anforderungen des Ökonomiegesetzes entspricht er nicht. Damit ist der Fall klar: Ein Nachtwächter dieses Typs wird zu Recht bemängelt, er wertet das Problem ab.
Etwas besser ist der Ruf des "thematischen Nachtwächters". Ließe man ihn fort, bliebe das Problem zwar immer noch korrekt, doch ginge die Thematik flöten.

2314
Herbert Grasemann
Die Schwalbe 1950
3. Preis








#2


In Nr.2314 machen zwei kritische Verführungen und ihre Widerlegungen das ganze Thema aus. Es wird in zwei virtuellen Spielen vorgeführt. Nur in einem davon ist der weiße Tg8 nötig, in der reellen (hier unthematischen) Lösung nicht mehr. Nach althergebrachter Anschauung ist dies ebenfalls ein Nachtwächter, der Missbilligung verdient. Na wenn schon. Weit stärker bewegt mich die grundsätzliche Frage: Kann eine Figur, die für den thematischen Inhalt unerlässlich ist, gegen das Ökonomiegesetz verstoßen? Wie sagt doch Ahues sehr richtig (Seite 69): "Ökonomie kann immer nur ein relativer Wert sein, und zwar bezogen auf die Thematik." Ergo?

Herbert Ahues
Lippische LZ 1949
2. Preis








#2

An dem thematischen Inhalt der Nr. 2315 hat der weiße Td2 nicht den geringsten Anteil, seine Rolle spielt er in Nebenspielen der reellen Lösung. Gemessen an der Faustregel Ahues' ist er also kein Nachtwächter. Aber, so frage ich mich (und Sie): Entspricht es dem Ökonomiegesetz, dass ein Offizier nur in entbehrlichen weil uninteressanten Varianten der Lösung mitwirkt, die den Inhalt nicht bereichern? Es wäre gewiss ökonomischer, sie fehlten gänzlich.
(Dass dies hier aus konstruktionstechnischen Gründen kaum möglich wäre, ist eine andere Geschichte. Auch in Nr.2313 geht es ohne den Sgl nicht).
Die handelsübliche Nachtwächter-Begriffsbestimmung ergibt also: Ein weißer Offizier, der in einem überflüssigen, der Gesamtwirkung eher abträglichen Nebenspiel der (reellen) Lösung mitspielt und sonst nicht, ist nicht anrüchig hingegen wird einer, der für die (virtuelle) Thematik unerlässlich ist, verpönt. Befriedigt Sie dieses Ergebnis? Mich nicht. Sofort zustimmen würde ich, käme einer daher und sagte, beide Fälle seien etwa gleich weit vom Ökonomieideal entfernt, oder schlicht: einer wie der andere sei unökonomisch.

 

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