Eine kleine Geschichte des Schachproblems

Essay von Herbert Grasemann aus Problemjuwelen 1964

Während das zweizügige Schachproblem erst seit rund achtzig Jahren ein eigengesichtiges Gebilde ist haben der Drei- und der Mehrzüger bereits tausend Jahre Entwicklungsgeschichte und Stilwandel hinter sich.
Das älteste auf uns gekommene schachliche Anschauungsmaterial sind etwa 500 altarabische Mansuben, in der Mehrzahl künstlich und Matt des Abu Na'amdurchaus kunstvoll aufgebaute Spielendungen. Die Araber hatten das Schachspiel ja auf ihren Eroberungszügen nach Persien dort kennengelernt und unter der grünen Fahne Mohammeds zur Mittelmeerküste und herüber nach Spanien gebracht, von dorther es sich über ganz Süd- und Mitteleuropa ausbreitete. Nr. I eine dieser Mansuben  sie stammen etwa aus dem 10. Jahrhundert, möge uns zeigen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die alten arabischen Problemmeister deren Namen uns leider nur vereinzelt überliefert sind, ihr Publikum zu fesseln verstanden.

I.Arabisch
ca. 10. Jahrhundert








Weiß zieht und gewinnt

Die Lösung ist 1. Th7+ Kg8 2. Sf6+ Kf8 3. e7+ Sxe7 4. Tf7+ Sxf7 5. Se6#. Sie arbeitet also durchgängig mit Schachgeboten. Wie anders sollte Weiß auch spielen angesichts der höchst prekären Lage seines eigenen Königs? Daß trotz der ihm drohenden Gefahr Weiß den Sieg erringt noch dazu unter Aufopferung eines erheblichen Teils seiner Streitmacht das muß dazumal von großer Wirkung auf jeden Betrachter der Stellung gewesen sein; denn in allen Beispielen aus dieser Epoche kehrt der Effekt wieder! Der Lösungsgang ist einspurig, er läßt keinerlei Abzweigungen durch Schwarz (Varianten) zu. Die Zugfolge ist - hierin besteht das wesentliche Kennzeichen einer Mansube - der einzige Weg zum Gewinn überhaupt Darum lautet die Forderung an den Löser auch einfach ,,Weiß zieht und gewinnt" obwohl es sich um eine eindeutige Mattführung in einer bestimmten Anzahl von Zügen handelt. Sehr bemerkenswert ist das elegante Vierspringermatt als Krönung des Ganzen - ein Zeichen dafür, daß hier nicht etwa ein Vorkommnis aus dem praktischen Schachkampf festgehalten ist, sondern untrüglich ein Kunsterzeugnis.
Es dauerte lange, sehr lange, ehe die europäischen Komponisten sich dieses großen persisch-arabischen Erbes würdig zeigten und es mehrten. Das Mittelalter gefiel sich in endlosem Wiederholen der alten Meisterwerke, häufig sogar in ihrer Verballhornung und Herabwürdigung zu Wettspielen. Doch dann brach eine neue Zeit an, da der Mensch sich seiner selbst wieder bewußt wurde und aus der Enge seiner Vorstellungen hinausdrängte zu kühnerer Schau und sie bestätigender Tat - die Zeit der Erasmus, Lionardo, Kopernikus, Kolumbus. Auch die kleine bescheidene Welt des Schachproblems erfuhr damals, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, eine beträchtliche Ausweitung Die schwachen, kurzschrittigen Figuren Fers und Fil  wurden zu Dame und Läufer, das alte Spiel dank dieses gewaltigen Kraftzuwachses mit einem Schlage erheblich kurzweiliger, anziehender, ungeahnte Kombinationsmöglichkeiten eröffnend. Diesen neuen Reichtum auszubeuten trachtete auf dem Gebiete der Schachkomposition so recht aber erst Philipp Stamma, ein als Dolmetscher in London und Paris lebender Syrer. Sein 1737 erschienener "Traité sur le jeu des échecs" wurde für mehrere Generationen maßgebend.
 Nr.11 macht deutlich, daß Stamma im Grunde kaum anderes zu bieten hat als altarabische Mansuben, bereichert durch die neue Wirkung der Diagonallangschrittler.

II. Ph. Stamma
Traité sur le
jeu des échecs, 1737








Weiß zieht und gewinnt

Weiß, undeckbar auf Matt stehend, erringt dennoch den Sieg durch
1. Le4+ Tb7 2. Db8+ Txb8 3. Txa7+ Lxa7 4. Sc7#. Noch immer wird nicht das kürzest-mögliche Matt in angegebener Zügezahl gefordert, sondern der Gewinn an sich. Dies ändert sich, nachdem Ansätze hierzu bereits in mittelalterlichen Schriften erkennbar sind, erst bei dem Dreigestirn aus Modena: Ercole del Rio, Giambattista Lolli, Domenico Ponziani (um 1750). Damit endlich erhält das Schachproblem jenen äußeren Rahmen, der bis in unsere Tage unverändert blieb. (Die Forderung "Weiß zieht und gewinnt" findet sich heute nur noch bei Endspielstudien.)

Hundert Jahre nach Stamma nimmt die Entwicklung zum modernen Schachproblem die entscheidende Wendung, stark gefördert durch die nunmehr aufkommenden regelmäßig erscheinenden Fachzeitschriften und Rubriken. Von der Mattführung als einzigem Gewinnweg, von Eingleisigkeit, unentwegtem Schachgedonner, partieähnlichem Kräfteverhältnis bei schwerster weißer Mattgefahr - von all dem, was Eigenart und Stil der ehrwürdigen Mansube ausmacht, beginnt man sich abzuwenden. Der Altonaer Julius Brede weist auf die Möglichkeit der Variantenbildung hin, das Werk des Peter August d'OrviIle (eines Deutschen, dessen Vorfahren aus den Niederlanden eingewandert waren) kündet beredt von der Schönheit des Mattbildes, und der nicht schachbietende, der "stille" Zug setzt sich als problemhafte Einleitung des Lösungsablaufs, als "Schlüssel", allmählich durch. Adolf Anderssen, gleich bedeutend als Problemkomponist wie als stärkster Partiepraktiker seiner Zeit experimentiert sogar mit Schlüsselzügen, die nicht schachbieten, sondern im Gegenteil den Gegner zu einem unmittelbaren, scheinbar fürchterlichen Angriff auf den König erst herausfordern. Eine Enleitung wie zu Nr.III

III. Adolf Anderssen
Aufgaben für
Schachspieler 1842








#5

1. Dh8! Txh8+ - war vor hundert Jahren gewiß etwas unerhört kühnes und überraschendes! Die Fortsetzung 2. Th6+ c6 3. Txh8+ Tf8 4. Txf8 Ld8 5. Txd8 freilich mutet um so fader an.

Je mehr die selbstgestellten Anforderungen an Inhalt, Überraschungseffekt und technisch feinere Durchbildung anwuchsen, um so hinderlicher mußte das Festhalten an einer partieähnlichen Ausgangsposition sein. Indem schließlich auch dieses althergebrachte Zugeständnis an die Gewohnheit des Partiespielers überwunden wurde, vollzog sich folgerichtig die endgültige Loslösung des Schachproblems von der Partie - jener natürliche Vorgang also, der mit der Beschränkung des schachlichen Geschehens auf eine willkürlich festgelegte Zeitspanne schon lange vorher begonnen hafte. Eine neue, selbständige Kunstform war entstanden. Daß sie kein hohles Gefäß blieb, daß das künstliche Schach zu eigentlichem Kunstschach wurde, dafür sorgten in der Folge Erfindungskunst steigendes technisches Können und die Betonung ästhetischer Werte und Beachtung allgemeiner künstlerischer Grundsätze. Das bloße Rätsel genügt nicht mehr, man sucht die schachliche Delikatesse. Aus der Position verschwindet alles Überflüssige. Die Aussage wird knapper, schärfer, eindringlicher. Der Dreizüger tritt seine Vorherrschaft an, der Dreizüger, der all die neuen Stilelemente harmonisch in sich vereinigt: den stillen Opferschlüssel, mehrere Spielabzweigungen als Folge erhöhter schwarzer Abwehrmöglichkeiten, das ökonomische und "reine" Matt als Krönung der Hauptvariante. Es ist jener Stil, den der Olmützer Jurist Dr. Conrad Bayer zu hoher Meisterschaft entwickelt, mit dem er Erfolge über Erfolge in den seither ständig veranstalteten Kompositionswettbewerben erringt.

 

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