Legalität und Legitimität im Schachproblem

von Bernd Gräfrath (Essen)
Nachdruck aus feenschach Heft 145 Januar-Februar 2002 Seite 336-337

H. Weenink weist darauf hin, daß die Forderung nach der Legalität der Problemstellung aus der Mansubentradition stammt.1 Und obwohl wir uns in vielem von dieser Tradition gelöst haben, wird doch allgemein (auch von Weenink) deren Legalitätsverständnis (im Sinne der Ableitbarkeit aus der üblichen Anfangsstellung) vorausgesetzt und eingefordert. Comins Mansfield problematisiert dies, weil nur die wenigsten Problemstellungen bei Voraussetzung vernünftigen Spiels in einer Partie nach Regeln des "Ortho-Schach"2 erreicht werden könnten.3 Dabei zeigt er durchaus eine gewisse kritische Distanz zur Tradition, auch wenn er sie letztlich zumindest als Orientierungshilfe empfiehlt. Wenn Mansfield schreibt, eine Verletzung der konventionellen Regel sei "not considered good form", könnte man dies vielleicht noch als britisches Understatement strikter Ablehnung interpretieren. Schon seine Rede von der abzulehnenden "Überbetonung" der Bedeutung einer Ableitbarkeit aus einer imaginären Partie macht aber deutlich, daß er dazu neigt, die Kontroverse als ein Abwägungsproblem zu betrachten und damit einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Auch wenn die Regelverletzung zu den Kosten gerechnet wird, kann es doch einen kompensierenden Nutzen geben, der das Problem legitimiert. Man könnte sogar die Position vertreten, daß schon die bloße Abweichung von der Partiewahrscheinlichkeit einer besonderen Rechtfertigung bedarf.4 Nur wird diese im Regelfall bei Schachproblemen leicht zu erbringen sein.
Demgegenüber erscheint es als äußerst künstlich, wenn Weenink und der Herausgeber der "Christmas Series", Alain C. White, ein striktes Legalitätskriterium zu Selektionszwecken voraussetzen, das irgendwo in der Mitte liegt, aber keine Ausnahmen zuläßt: Sie wollen Umwandlungsfiguren nur dann zulassen, wenn sie zwar in der imaginären Entstehungsgeschichte des Problems nachgewiesen werden können, aber inzwischen wieder geschlagen wurden (was zu der präsentierten Bauernstellung führte).5 Weenink erklärt immerhin, wie es zu dem Bedürfnis kam, die Zwänge der traditionellen Konvention zu lockern: Es wurden neue Kompositionsideen gesucht und entwickelt, die sich innerhalb des alten Rahmens nicht darstellen ließen. Aber für ihn scheint das eher eine Diagnose der Erkrankung zu sein, während andere darin eine Rechtfertigung finden können, auf diesem Weg fortzuschreiten.
John Rice erweitert das erlaubte Kompositionsgebiet, indem er die Grenzen verschiebt; aber immer noch sollen nach seiner Ansicht manche Grenzen der Illegalität nie überschritten werden. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Fälle:6

  1. "obtrusive force".
Dabei handelt es sich um deplazierte Figuren, die ihre Position nicht von der üblichen Anfangsstellung aus erreicht haben können, sondern durch Umwandlung entstanden sein müssen (also etwa ein weißer weißfeldriger Läufer, der auf dem Feld c4 plaziert ist, obwohl sich auf e2 und auf g2 noch weiße Bauern befinden).

  2. "promoted force".
Überzählige
Figuren sind ebenfalls durch Umwandlung entstanden, ersetzen aber keine anderweitig geschlagene Figur. (Ein Beispiel wäre ein dritter weißer Läufer.)

  3. "illegal position".
Im strengen Sinne illegal
ist eine Position dann, wenn sich in einer Problemstellung Figuren auf Feldern befinden, die sie in einer wirklichen Partie niemals hätten erreichen können (also etwa ein weißer Läufer auf a1, der von einem weißen Bauern auf b2 blockiert wird).

Typ 1 wird nach Rice zwar von einigen Puristen abgelehnt, ist aber unter Umständen akzeptabel. Typ 2 ist nach Rice in orthodoxen Problemen (wozu er direktes Spiel, Selbstmatt und Hilfsmatt rechnet) normalerweise nicht erlaubt. Bei Typ 3 gibt es nach Rice dagegen kein Abwägen: Solche Positionen sind "definitely out!" Aber muß das unter allen Umständen so sein? Kann es nicht auch für solche Positionen eine Rechtfertigung geben? Selbst wenn man die strenge Illegalität im Sinne von Rice diagnostizieren muß und selbst wenn man bereit ist, das als Kosten zu rechnen, könnte es nicht selbst dann einen ausgleichenden Nutzen geben? Rice hat selber in einem früheren Werk darauf hingewiesen, daß große Komponisten mit ihren Meisterwerken Konventionen durchbrechen;7 und so wird man etwa dem genialen Loyd nicht vorwerfen, daß in der Nr. 687 der Pickard-Sammlung einige weiße Bauern auf Feldern stehen, die sie nie legal in einer normalen Schachpartie erreichen konnten.

Sam  Loyd
American Chess
Nuts 1868








Wer setzt in 4 Zügen matt?

Selbst der orthodoxe Speckmann präsentiert in einer seiner Sammlungen ein Problem W. v. Holzhausens, bei dem es in der Problemstellung heißt, daß Weiß anzieht, obwohl Schwarz keinen legalen letzten Zug hat.8

Walther von Holzhausen
Fassung C.S.Kipping
Akademische
Schachblätter 1901
Salut public 1929








#2

Speckmann weist sogar darauf hin, daß die Stellung durch die Hinzufügung eines ansonsten überflüssigen Bauernpaares im üblichen Sinne "legalisiert" werden könnte; aber mit bemerkenswerter Unbefangenheit läßt er es offen, ob das Kosten/Nutzen-Verhältnis dadurch verbessert würde. Ein Gebiet, dem lange keine Aufnahme in den Bereich des orthodoxen Problemschaffens gewährt wurde, erscheint nun im Rückblick als ein zentrales Paradigma für ein puristisches Legalitätsverständnis, weil es so scheint, daß in ihm immer das strenge Legalitätskriterium von Rice erfüllt sein muß, damit das Problem überhaupt sinnvoll ist: nämlich das Gebiet der retrograden Analyse. Aber auch hier zeigt sich, daß die Unorthodoxie Neuland gewinnen kann, indem sie ehemals verbotene Zonen für sich fruchtbar macht. In diesem Zusammenhang muß auf vier Problemtypen eingegangen werden, deren verwandtschaftliche Beziehungen besonders geeignet sind, diesen Punkt zu illustrieren: Retro-Probleme im engeren Sinne, Märchen-Retros, Beweispartien und Probleme vom Typ A->B, in denen die Aufgabenstellung darin besteht, den Weg von einem Diagramm A zu einem Diagramm B herauszufinden (vgl. Thematurnier Andernach 2001). Allen vier Typen ist gemeinsam, daß danach gefragt wird (entweder allgemein oder sehr spezifisch), was in der Vergangenheit einer Position geschah. Der Typ A->B umfaßt dabei die anderen Typen; denn bei diesen ist die gegebene Diagrammstellung quasi das "Nachher"-Diagramm B, und es wird stillschweigend vorausgesetzt, daß die nicht abgebildete Anfangsstellung (in der üblichen Partie-Aufstellung, mit eventuellen Änderungen, die explizit erwähnt werden müssen) das "Vorher"-Diagramm A ist. Bei einem verallgemeinerten Problemtyp A->B bliebe die Aufgabenstellung nun auch dann noch sinnvoll, wenn sich in Diagramm A eine strenge Illegalität (im Sinne von Rice) nachweisen ließe. Abenteuerlustige Komponisten sind somit aufgefordert, Probleme zu schaffen, die den neuen Freiraum nutzen und zeigen, daß ein im strengen Sinne illegales Diagramm A akzeptabel ist, insofern es die Darstellung neuer Ideen ermöglicht.
Während der Legalist sich an die Regeln einer bestimmten Konvention klammert, fragt der allgemeiner an Legitimität interessierte Kritiker nach der Rechtfertigung einer gegebenen Konvention - und danach, wie diese Konvention im Vergleich zu ihren Alternativen abschneidet. Erst danach läßt sich bestimmen, inwieweit das als legal Geltende auch legitim ist. Diese Argumentation erinnert vielleicht an Rechtfertigungen für zivilen Ungehorsam, der unter bestimmten Umständen und innerhalb bestimmter Grenzen erlaubt (oder sogar geboten) ist. Aber selbst das wäre für unsere Zwecke ein noch zu restriktives Vorbild; denn in der Welt des Schachproblems schadet wohlverstandene Anarchie (das heißt, Ordnung ohne Herrschaft) nicht, sondern läßt in wünschenswerter Vielfalt (mindestens) hundert Blumen blühen - und der Dschungel ist besonders artenreich. Es muß ja nicht jeder in die Wildnis ziehen. Schließlich gibt es im Problemschach mindestens so viele Richtungen wie im Partieschach; und schon dort ist auf der einen Seite Platz für "Gärtner" wie Réti und Grünfeld und auf der anderen Seite Platz für "Urwaldjäger" wie Tartakower.9


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1 H. Weenink, The Chess Problem (Stroud: The Chess Amateur, 1926), S. 143 ff.
2 Diese Bezeichnung für das Schach nach FIDE-Regeln ist zu finden bei D.B. Pritchard, The Encyclopedia of Chess Variants (Godalming, Surrey: Games & Puzzles, 1994), S. 216.
3 Comins Mansfield, Adventures in Composition: The Art of The Two-Move Chess Problem (Liverpool: Daily Post Printers, 1948), S. 11 ff.
4 Vgl. P.A. Orlimont, "Der Spielpraktiker und das Problem" (1937), in: Hermann Weißauer, P.A. Orlimont und seine Schachaufgaben: Leben, Werk und Wirkung des P.A.O. (Treuenhagen: Nightrider Unlimited, 1999), S. 484 ff.
5 H. Weenink, The Chess Problem, S. 146.
6 John Rice, Chess Wizardry: The New ABC of Chess Problems (London: Batsford, 1996), S. 187 f.
7 Michael Lipton, R.C.O. Matthews u. John M. Rice, Chess Problems: Introduction to an Art (London: Faber & Faber, 1963), S. 21.
8 Werner Speckmann, Einführung in die Welt des Schachproblems (Düsseldorf: Walter Rau, 1986), S. 157 u. S. 228.
9 Vgl. Neue Wiener Schach-Zeitung vom Juli 1923, S. 160.


Der Autor ist Privatdozent und Akademischer Oberrat für Philosophie an der Universität Essen. Zuletzt erschien sein Buch Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein: Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem (München: C.H. Beck, 1998).

Das Buch Ketzer, Dilettanten und Genies: Grenzgänger der Philosophie (Hamburg: Junius Verlag, 1993) von  Bernd Gräfrath, enthält ein ziemlich langes Kapitel über Emanuel Laskers Philosophie und Schachtheorie.

Vielen Dank an Bernd Gräfrath und bernd ellinghoven für die Erlaubnis den Aufsatz auf meiner Homepage nachzudrucken.
Die Zeitschrift für Märchenschach feenschach kann bei dem Herausgeber bernd ellinghoven bestellt werden

 

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