Zur Bedeutung des Ökonomieprinzips

von Bernd Gräfrath (Essen)
Nachdruck aus feenschach Heft 145 Januar-Februar 2002 Seite 334-335

Nach Leibniz handelte der Schöpfer der Welt nach einem Prinzip der Vollkommenheit, "daß nämlich die größte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwand erreicht werde."1 Bei Schachproblemen entspricht dies einer Orientierung am Prinzip der Ökonomie. Oft übersehen wird dabei allerdings, daß die genannten Prinzipien keineswegs immer ein einfaches Urteil erlauben, sondern schwierige Abwägungskonflikte zur Folge haben können. So darf das Ökonomieprinzip nicht mit einem bloßen Sparsamkeitsprinzip verwechselt werden, sondern es geht um ein optimales Verhältnis von Mitteln und Ergebnis (platter gesagt: von Kosten und Nutzen): Wer Großes schaffen will, darf unter Umständen nicht zu sparsam sein. Der Leibnizsche Gott rechnet die Einfachheit der gewählten Mittel gegen die erwünschte Vielfalt der Phänomene auf, wobei einerseits die Einfachheit nicht übertrieben werden darf, weil das zu allzu großer Kargheit führt, andererseits die angestrebte Vielfalt nicht durch zu hohe Kosten erkauft werden soll. Die Komponisten von Schachproblemen sind in einer etwas besseren Lage, weil sie nicht vor der Aufgabe stehen, nur ein einziges Problem, nämlich das beste aller möglichen, zu schaffen. Trotzdem muß klar sein, daß es bei der Bewertung ihrer Produkte zurAnwendung eines Prinzips kommt, das selbst zwei Aspekte vereint, die miteinander in Konflikt geraten können. Im folgenden sollen daraus einige Schlußfolgerungen gezogen werden, die von allgemein akzeptierten bis zu sicherlich umstrittenen reichen.
Allgemein wird zumindest implizit akzeptiert, daß sich schon die Regel der anzustrebenden Einfachheit auf verschiedene Aspekte beziehen kann: etwa Sparsamkeit bezüglich der benötigten Zahl der Züge und des benötigten Materials (wobei es da wieder kontrovers ist, ob die Zahl oder die Kraft der Steine wichtiger ist; also ob man eher zwei Bauern oder eine Dame zur Erreichung des Kompositionszwecks verwenden soll). Andere stellen eher die Forderung eines ökonomisch-effizienten Mattbilds an die erste Stelle. Wer überhaupt diese Einfachheitsaspekte für irgendwie relevant hält, muß jedenfalls schon Abwägungsprobleme lösen, wenn - wie üblich - nicht alle Einfachheitsziele gleichzeitig in maximalem Ausmaß erreicht werden können.
Noch größer werden die Abwägungsprobleme, wenn die Einfachheit der Mittel in Beziehung zu den anstrebbaren Zwecken gesetzt werden muß. In feenschach Heft 143, Seite 257 (Kommentare zu Problem Nr. 8186), klingt eine entsprechende Kontroverse an, weil der eine kritisiert, daß das Problem zwar inhaltsreich ist, damit aber ein "schrecklicher, abstoßender Anblick" verbunden ist, der andere demgegenüber die Auffassung vertritt, "daß einfach jede Idee eine (in bestimmten Grenzen, die optimiert werden müssen) eigene Form rechtfertigt". Das Ökonomieprinzip unterstützt die zweite Ansicht - was natürlich nicht automatisch bedeutet, daß im konkreten Fall das Kosten/Nutzen-Verhältnis optimal ist.
Allerdings enthält dieses Prinzip auch Implikationen, die vielleicht für viele unerwünscht sind. Kosten/Nutzen-Abwägungen kann man etwa auch auf die verbrauchte Kompositionszeit anwenden. So schreiben Lipton/Matthews/Rice von dem Dilemma, daß es irgendwann ineffizient erscheint, weiter an der Optimierung eines Problems zu arbeiten, wenn wenig dafür spricht, daß sich noch ein besseres Ergebnis einstellen wird. Eine Veröffentlichung könnte trotzdem sinnvoll sein, weil sonst viele wertvolle Probleme (darunter sogar einige bahnbrechende Klassiker) nie veröffentlicht worden wären.2 Freilich werden im selben Buch3 auch Komponisten gelobt, die nicht von Problem zu Problem hetzen, sondern Hunderte von Stunden in ein einziges Problem stecken, um etwas von dauerhaftem Wert zu schaffen.
Fraglich ist auch, wie gut das Prinzip der Ökonomie mit dem der sogenannten "Zweckreinheit" vereinbar ist. Nehmen wir ein Problem von P.A. Orlimont (Nr. 286 der Weißauer-Sammlung).

P.A. Orlimont
Deutsches
Wochenschach 1905
J.Kohtz und
Carl Kockelkorn
gewidmet








#4

1. Tf1 d5 2. Lxd5 d6 3. Se4 gxf1=D 4. Sf2#
Muß es denn als Makel betrachtet werden, wenn in einem Inder der kritische Zug gleichzeitig noch schlägt und blockt? Ist es nicht gerade besonders effizient, daß ein einzelner Zug so viel leistet?
Und warum ist es eigentlich erlaubt oder sogar erwünscht, daß im Hilfsspiel mehrere Lösungen möglich sind? Man könnte sagen, daß dies insofern dem Ökonomieprinzip entspricht, als hier die einfach gegebene Ausgangsstellung eine interessante Vielfalt hervorbringt. Aber warum gilt dann im direkten Spiel die Existenz einer zweiten Lösung als unerwünschter Dual? Dawson war da liberaler. Er schrieb: "The attitude of the man who dislikes two BEAUTIFUL solutions in a given problem because, he says, there ought to be only one, is quite incomprehensible. [...] It is obvious that the 'soundness' of a two-solution ending will be largely a matter of degree depending on the special circumstances of each individual case."4

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1.   Gottfried Wilhelm Leibniz, "Über den ersten Ursprung der Dinge" (urspr. lateinisch, verfaßt 1697), in: ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, hrsg. v. Herbert Herring (Stuttgart: Reclam, 1987), S. 39-50, hier: S. 41.
2.   Michael Lipton, R.C.O. Matthews u. John M. Rice, Chess Problems: Introduction to an Art (London: Faber & Faber, 1963), S. 195.
3.    Ebd., S. 180.
4.    Zitiert nach: The Win and Draw Chess Compositions of Thomas Rayner Dawson, hrsg. v. John Roycroft (Wien: Friedrich Chlubna, 1997), S. 36.


Der Autor ist Privatdozent und Akademischer Oberrat für Philosophie an der Universität Essen. Zuletzt erschien sein Buch Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein: Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem (München: C.H. Beck, 1998).

Das Buch Ketzer, Dilettanten und Genies: Grenzgänger der Philosophie (Hamburg: Junius Verlag, 1993) von  Bernd Gräfrath, enthält ein ziemlich langes Kapitel über Emanuel Laskers Philosophie und Schachtheorie.

Vielen Dank an Bernd Gräfrath und bernd ellinghoven für die Erlaubnis den Aufsatz auf meiner Homepage nachzudrucken.
Die Zeitschrift für Märchenschach feenschach kann bei dem Herausgeber bernd ellinghoven bestellt werden

 

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